Entschließung der 65. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder am 27./28. März 2003 in Dresden

Datenschutzrechtliche Rahmenbedingungen zur Modernisierung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung

In der Diskussion über eine grundlegende Reform des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) werden in großem Maße datenschutzrechtliche Belange berührt. Erweiterte Befugnisse zur Verarbeitung von medizinischen Leistungs- und Abrechnungsdaten sollen eine stärkere Kontrolle der Patientinnen und Patienten sowie der sonstigen beteiligten Parteien ermöglichen. Verbesserte individuelle und statistische Informationen sollen zudem die medizinische und informationelle Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten verbessern sowie die Transparenz für die Beteiligten und für die Öffentlichkeit erhöhen.

So sehen diverse Vorschläge des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung zur Modernisierung des Gesundheitswesens u.a. vor, dass bis zum Jahr 2006 schrittweise eine elektronische Gesundheitskarte eingeführt wird und Leistungs- und Abrechnungsdaten zusammengeführt werden sollen. Boni für gesundheitsbewusstes Verhalten und Ausnahmen oder Mali für gesundheitsgefährdendes Verhalten sollen medizinisch rationales Verhalten der Versicherten fördern, was eine Überprüfung dieses Verhaltens voraussetzt. Derzeit werden gesetzliche Regelungen ausgearbeitet.

Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder weisen erneut auf die datenschutzrechtlichen Chancen und Risiken einer Modernisierung des Systems der GKV hin.

Viele Vorschläge zielen darauf ab, Gesundheitskosten dadurch zu reduzieren, dass den Krankenkassen mehr Kontrollmöglichkeiten eingeräumt werden. Solche individuellen Kontrollen können indes nur ein Hilfsmittel zu angestrebten Problemlösungen, nicht aber die Problemlösung selbst sein. Sie sind auch mit dem Recht der Patientinnen und Patienten auf Selbstbestimmung und dem Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen ärztlichem Personal und behandelten Personen nicht problemlos in Einklang zu bringen. Eingriffe müssen nach den Grundsätzen der Datenvermeidung und der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit auf ein Minimum beschränkt bleiben. Möglichkeiten der anonymisierten oder pseudonymisierten Verarbeitung von Patientendaten müssen ausgeschöpft werden. Eine umfassendere Informationder Patientinnen und Patienten, die zu mehr Transparenz führt und die Verantwortlichkeiten verdeutlicht, ist ebenfalls ein geeignetes Hilfsmittel.

Sollte im Rahmen gesetzlicher Regelungen zur Qualitätssicherung und Abrechnungskontrolle für einzelne Bereiche der Zugriff auf personenbezogene Behandlungsdaten unerlässlich sein, müssen Vorgaben entwickelt werden, die

  • den Zugriff auf genau festgelegte Anwendungsfälle begrenzen,
  • das Prinzip der Stichprobe zugrunde legen,
  • eine strikte Einhaltung der Zweckbindung gewährleisten und
  • die Auswertung der Daten einer unabhängigen Stelle übertragen.

1.

Die Datenschutzbeauftragten erkennen die Notwendigkeit einer verbesserten Datenbasis zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung an. Hierzu reichen wirksam pseudonymisierte Daten grundsätzlich aus. Eine Zusammenführung von Leistungs- und Versichertendaten darf nicht dazu führen, dass über eine lückenlose zentrale Sammlung personenbeziehbarer Patientendaten mit sensiblen Diagnose- und Behandlungsangaben z.B. zur Risikoselektion geeignete medizinische Profile entstehen. Dies könnte nicht nur zur Diskriminierung einzelner Versicherter führen, sondern es würde auch die sozialstaatliche Errungenschaft des solidarischen Tragens von Krankheitsrisiken aufgegeben. Zudem wären zweckwidrige Auswertungen möglich, für die es viele Interessierte gäbe, von Privatversicherungen bis hin zu Arbeitgebern. Durch sichere technische und organisatorische Verfahren, die Pseudonymisierung der Daten und ein grundsätzliches sanktionsbewehrtes Verbot der Reidentifizierung pseudonymisierter Datenbestände kann solchen Gefahren entgegengewirkt werden.

2.

Die Einführung einer Gesundheitschipkarte kann die Transparenz des Behandlungsgeschehens für die Patientinnen und Patienten erhöhen, deren schonende und erfolgreiche medizinische Behandlung effektivieren und durch Vermeidung von Medienbrüchen und Mehrfachbehandlungen Kosten senken. Eine solche Karte kann aber auch dazu genutzt werden, die Selbstbestimmungsrechte der Patientinnen und Patienten zu verschlechtern. Dieser Effekt würde durch eine Pflichtkarte eintreten, auf der – von den Betroffenen nicht beeinflussbar – Diagnosen und Medikationen zur freien Einsicht durch Ärztinnen und Ärzte sowie sonstige Leistungserbringende gespeichert wären. Zentrales Patientenrecht ist es, selbst zu entscheiden, welchem Arzt oder welcher Ärztin welche Informationen anvertraut werden.

Die Datenschutzkonferenz fordert im Fall der Einführung einer Gesundheitschipkarte die Gewährleistung des Rechts der Patientinnen und Patienten, grds. selbst zu entscheiden,

  • ob sie überhaupt verwendet wird,
  • welche Daten darauf gespeichert werden oder über sie abgerufen werden können,
  • welche Daten zu löschen sind und wann das zu geschehen hat,
  • ob sie im Einzelfall vorgelegt wird und
  • welche Daten im Einzelfall ausgelesen werden sollen.

Sicherzustellen ist weiterhin

  • ein Beschlagnahmeverbot und Zeugnisverweigerungsrecht, in Bezug auf die Daten, die auf der Karte gespeichert sind,
  • die Beschränkung der Nutzung auf das Patienten-Arzt/Apotheken-Verhältnis und
  • die Strafbarkeit des Datenmissbrauchs.

Die Datenschutzkonferenz hat bereits zu den datenschutzrechtlichen Anforderungen an den „Arzneimittelpass“ (Medikamentenchipkarte) ausführlich Stellung genommen (Entschließung vom 26.10.2001). Die dort formulierten Anforderungen an eine elektronische Gesundheitskarte sind weiterhin gültig. Die „Gemeinsame Erklärung des Bundesministeriums für Gesundheit und der Spitzenorganisationen zum Einsatz von Telematik im Gesundheitswesen“ vom 3. Mai 2002, wonach „der Patient Herr seiner Daten“ sein soll, enthält gute Ansatzpunkte, auf deren Basis die Einführung einer Gesundheitskarte betrieben werden kann.

3.

Die Datenschutzbeauftragten anerkennen die Förderung wirtschaftlichen und gesundheitsbewussten Verhaltens als ein wichtiges Anliegen. Dies darf aber nicht dazu führen, dass die Krankenkassen detaillierte Daten über die private Lebensführung erhalten („fährt Ski“, „raucht“, „trinkt zwei Biere pro Tag“), diese überwachen und so zur „Gesundheitspolizei“ werden. Notwendig ist deshalb die Entwicklung von Konzepten, die ohne derartige mitgliederbezogene Datensätze bei den Krankenkassen und ihre Überwachung auskommen.

4.

Die Datenschutzbeauftragten begrüßen alle Pläne, die darauf hinauslaufen, das Verfahren der GKV allgemein sowie die individuelle Behandlung und Datenverarbeitung für die Betroffenen transparenter zu machen. Maßnahmen wie die Einführung der Patientenquittung, die Information über das Leistungsverfahren und über Umfang und Qualität des Leistungsangebotes sowie eine verstärkte Einbindung der Patientinnen und Patienten durch Unterrichtungen und Einwilligungserfordernisse stärken die Patientensouveränität und die Selbstbestimmung.