Entschließung der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vom 27./28. Oktober 2005

Appell der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder: Eine moderne Informationsgesellschaft braucht mehr Datenschutz

Die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder sieht für die 16. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags großen Handlungsbedarf im Bereich des Datenschutzes. Der Weg in eine freiheitliche und demokratische Informationsgesellschaft unter Einsatz modernster Technologie zwingt alle Beteiligten, ein verstärktes Augenmerk auf den Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu legen. Ohne wirksameren Datenschutz werden die Fortschritte vor allem in der Informations- und der Biotechnik nicht die für Wirtschaft und Verwaltung notwendige gesellschaftliche Akzeptanz finden.

Es bedarf einer grundlegenden Modernisierung des Datenschutzrechtes. Hierzu gehört eine Ergänzung des bisher auf Kontrolle und Beratung basierenden Datenschutzrechtes um Instrumente des wirtschaftlichen Anreizes, des Selbstdatenschutzes und der technischen Prävention. Es ist daher höchste Zeit, dass in dieser Legislaturperiode vom Deutschen Bundestag ein Datenschutz-Auditgesetz erarbeitet wird. Datenschutzkonforme Technikgestaltung als Wettbewerbsanreiz liegt im Interesse von Wirtschaft, Verwaltung und Bevölkerung. Zugleich ist die ins Stocken geratene umfassende Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes mit Nachdruck voranzutreiben. Eine Vereinfachung und Konzentration der rechtlichen Regelungen kann Bürokratie abbauen und zugleich den Grundrechtsschutz stärken.

Die Bürgerinnen und Bürger müssen auch in Zukunft frei von Überwachung sich informieren und miteinander kommunizieren können. Nur so können sie in der Informationsgesellschaft ihre Grundrechte selbstbestimmt in Anspruch nehmen. Dem laufen Bestrebungen zuwider, mit dem Argument einer vermeintlich höheren Sicherheit immer mehr alltägliche Aktivitäten der Menschen elektronisch zu registrieren und für Sicherheitszwecke auszuwerten. Die längerfristige Speicherung auf Vorrat von Verkehrsdaten bei der Telekommunikation, die zunehmende Videoüberwachung im öffentlichen Raum, die anlasslose elektronische Erfassung des Straßenverkehrs durch Kfz-Kennzeichenabgleich, die Erfassung biometrischer Merkmale der Bevölkerung oder Bestrebungen zur Ausdehnung der Rasterfahndung betreffen ganz überwiegend völlig unverdächtige Bürgerinnen und Bürger und setzen diese der Gefahr der Ausforschung ihrer Lebensgewohnheiten und einem ständig wachsenden Anpassungsdruck aus, ohne dass dem immer ein adäquater Sicherheitsgewinn gegenübersteht. Freiheit und Sicherheit bedingen sich wechselseitig. Angesichts zunehmender Überwachungsmöglichkeiten kommt der Freiheit vor staatlicher Beobachtung und Ausforschung sowie dem Grundsatz der Datensparsamkeit und Datenvermeidung eine zentrale Bedeutung zu.

Den Sicherheitsbehörden steht bereits ein breites Arsenal an gesetzlichen Eingriffsbefugnissen zur Verfügung, das teilweise überstürzt nach spektakulären Verbrechen geschaffen worden ist. Diese Eingriffsbefugnisse der Sicherheitsbehörden müssen einer umfassenden systematischen Evaluierung durch unabhängige Stellen unterworfen und öffentlich zur Diskussion gestellt werden. Unangemessene Eingriffsbefugnisse, also solche, die mehr schaden als nützen, sind wieder zurückzunehmen.

Die Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger wird auch mit den Argumenten der Verhinderung des Missbrauchs staatlicher Leistungen und der Erhöhung der Steuerehrlichkeit vorangetrieben. So richtig es ist, in jedem Einzelfall die Voraussetzungen für staatliche Hilfen zu prüfen und bei hinreichenden Anhaltspunkten Steuerhinterziehungen nachzugehen, so überflüssig und rechtsstaatlich problematisch ist es, alle Menschen mit einem Pauschalverdacht zu überziehen und Sozial- und Steuerverwaltung mit dem Recht auszustatten, verdachtsunabhängig Datenabgleiche mit privaten und öffentlichen Datenbeständen vorzunehmen. Es muss verhindert werden, dass mit dem Argument der Leistungs- und Finanzkontrolle die Datenschutzgrundsätze der Zweckbindung und der informationellen Gewaltenteilung auf der Strecke bleiben.

Die Entwicklung in Medizin und Biotechnik macht eine Verbesserung des Schutzes des Patientengeheimnisses notwendig. Telemedizin, der Einsatz von High-Tech im Gesundheitswesen, gentechnische Verfahren und eine intensivierte Vernetzung der im Gesundheitsbereich Tätigen kann zu einer Verbesserung der Qualität der Gesundheitsversorgung und zugleich zur Kosteneinsparung beitragen. Zugleich drohen die Vertraulichkeit der Gesundheitsdaten und die Wahlfreiheit der Patientinnen und Patienten verloren zu gehen. Diese bedürfen dringend des gesetzlichen Schutzes, u. a. durch ein modernes Gendiagnostikgesetz und durch datenschutz- und patientenfreundliche Regulierung der Computermedizin.

Persönlichkeitsrechte und Datenschutz sind im Arbeitsverhältnis vielfältig bedroht, insbesondere durch neue Möglichkeiten der Kontrolle bei der Nutzung elektronischer Kommunikationsdienste, Videotechnik, Funksysteme und neue biotechnische Verfahren. Schranken werden bisher nur im Einzelfall durch Arbeitsgerichte gesetzt. Das seit vielen Jahren vom Deutschen Bundestag geforderte Arbeitnehmerdatenschutzgesetz muss endlich für beide Seiten im Arbeitsleben Rechtsklarheit und Sicherheit schaffen.

Die Datenschutzkontrolle hat mit der sich fast explosionsartig entwickelnden Informationstechnik nicht Schritt gehalten. Immer noch findet die Datenschutzkontrolle in manchen Ländern durch nachgeordnete Stellen statt. Generell sind Personalkapazität und technische Ausstattung unzureichend. Dem steht die europarechtliche Anforderung entgegen, die Datenschutzaufsicht in völliger Unabhängigkeit auszuüben und diese adäquat personell und technisch auszustatten.

Die Europäische Union soll ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ werden. Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder sind sich bewusst, dass dies zu einer verstärkten Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden bei der Verbrechensbekämpfung in der Europäischen Union führen wird.

Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Polizei- und Justizbehörden darf jedoch nicht zur Schwächung von Grundrechtspositionen der Betroffenen führen. Der vermehrte Austausch personenbezogener Daten setzt deshalb ein hohes und gleichwertiges Datenschutzniveau in allen EU-Mitgliedstaaten voraus. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass die Regelungen in enger Anlehnung an die Datenschutzrichtlinie 95/46/EG erfolgen, damit ein möglichst einheitlicher Datenschutz in der Europäischen Union gilt, der nicht zuletzt dem Ausgleich zwischen Freiheitsrechten und Sicherheitsbelangen dienen soll.

Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der genannten Länder appellieren an die Fraktionen im Bundestag und an die künftige Bundesregierung, sich verstärkt für den Grundrechtsschutz in der Informationsgesellschaft einzusetzen.